Wer wissen will, was genau Cyberpunk sein soll, der sollte sich William Gibsons Klassiker Neuromancer von 1984 vornehmen. Gibson soll die Meinung vertreten haben, „Japan ist einfach Cyberpunk“, und so erscheint es nur
folgerichtig, dass die Handlung seines wohl bekanntesten Werks in Japan beginnt. Wer sich in die Welt des
ehemaligen Cyber-Cowboys Case hineinbegibt, wird aber bald feststellen, dass es
zwar hier sehr bunt, aber auch verdammt brutal zugeht. Die Straßen sind so rau
wie die Dialoge zwischen den einzelnen Charakteren, und der Leser wird bald das
Gefühl haben, permanent den Lauf einer Knarre in den Nacken gedrückt zu
bekommen: "Seine vom Oktagon ausgelöste künstliche Tapferkeit bröckelte vollends ab. Er schob die Kobra in den Schaft und flitzte zum Fenster, blind vor Angst, mit kreischenden Nerven." (Seite 49).
Case selbst ist ein Wrack. Seine ehemaligen Auftraggeber,
für die er eine Weile lang als Hacker gearbeitet und stolze Summen erbeutet
hat, erwischten ihn eines Tages dabei, wie er den eigenen Anteil großzügig
aufrundete und bestraften ihn dafür, indem sie sein Nervensystem derart
schädigten, dass an eine Fortsetzung seiner Karriere als Hacker nicht mehr zu
denken ist.
Die Trilogie, erschienen bei Heyne. Heute ist Teil 1 dran - Neuromancer. |
Nun erbeutet er Kleinstbeträge, ist mit einer Prostituierten
verbandelt und hat auch schon drei Menschen auf dem Gewissen – alles nur, um
selbst am Leben zu bleiben in einer Welt, die der menschlichen Existenz,
insbesondere der fleischlichen, feindlicher nicht sein könnte. Gibson legt
dabei eine ganz besondere Liebe fürs Detail an den Tag, egal ob es um den Wirt
in Cases Lieblingsspelunke geht,
dessen Arm halb fleischlich, halb metallische Kralle ist, oder um eine minutiöse
Beschreibung einer Handfeuerwaffe: „Shins
Pistole war eine fünfzig Jahre alte vietnamesische Imitation eines
südamerikanischen Nachbaus einer Walther PKK Double-action. Sie hatte einen
schwergängigen Abzug und war für 22er Gewehrmunition umgerüstet. Case wären
Bleiazid-Explosivgeschosse lieber gewesen als die einfachen chinesischen
Hohlspitzpatronen, die Shin ihm verkauft hatte. […]“ (Seite 50).
Tatsächlich ist Gibsons Vision, die sich zuweilen in solch
ausufernden Beschreibungen zu verrennen Gefahr läuft, in diversen Bereichen des
menschlichen Lebens erstaunlich hellseherisch. Nicht nur einem selbstfahrenden
Mercedes begegnet der Leser, sondern auch dem Organhandel im bereits erwähnten
Japan und geklonten Menschen im Weltraum, diverse Dinge, die heute Tatsache sind, möglich
oder in naher Zukunft machbar erscheinen.
Case führt sein Abenteuer weit um den Globus und tief in die Vergangenheit seiner
Mitstreiter. Doch er begibt sich keinesfalls freiwillig auf seine Reise;
dahinter steckt Armitage, ein
stumpfsinniger Militär, der einmal Corto
hieß, aber auch er wird (nun zum zweiten Mal in seinem Leben) zum Spielball größerer Mächte.
Case bekommt seine Hacker-Fähigkeiten
zurück, aber ein Gift, das sich langsam in seinen Körper entlädt und dessen
Beseitigung nur sein Auftraggeber beherrscht, bindet ihn an Armitage, für den er – an der Seite der verführerischen
Kopfgeldjägerin Molly – eine
waghalsige Mission ausführt.
Während Case sich
durch Datencluster hackt, ist Molly
für das Grobe zuständig und nimmt den Kampf mit Sicherheitsdiensten und anderen
Hindernissen auf. Der Roman verhandelt dabei nicht nur Entwürfe einer
dystopischen Zukunft und Themen wie Verrat und Liebe, sondern auch Leben, Tod
und Bewusstsein in Zeiten eines gnadenlosen, globalisierten
Raubtierkapitalismus. Exzentrische und psychotische Charaktere (hier sind vor
allem Julie und Riviera zu nennen) sorgen für jede Menge Spannung und scheinen
durchaus nicht fehl am Platze, denn diese Zukunftsvision ist ein Spielplatz für
Irre.
Der Roman ist mit seiner Fülle an Details und seinen
zuweilen verwirrenden Wechseln zwischen virtueller und physischer Realität („Er
steckte aus“ […] „Er steckte ein.“) durchaus kein Sonntagsspaziergang für
Gelegenheitsleser, doch macht er solche Mängel durch Spannung und Tiefgang
wett. Dabei ist die deutsche Version (Heyne 2002, vierte Auflage) noch
erstaunlich lesbar geblieben, doch es begegnen einem immer wieder kleinere ("Bacon", Seite 81) und größere („Negermädchen“, Seite 109) Übersetzungspatzer.
Der erste Teil von Gibsons Zukunftsvision ist surreal, finster
und gesellschaftskritisch, und die Lektüre wert.