Dienstag, 29. November 2016

Ian McEwan: Nussschale – Hamlet mal GANZ anders



Ende Oktober ist die Übersetzung des neuesten Werkes des weltbekannten Autors Ian McEwan mit erstaunlich kurzer Verzögerung zum Original (Nutshell bei Jonathan Cape) auch auf Deutsch erschienen. Der Autor, der mit dem Roman Abbitte (2001) zu Weltbekanntheit gelangte, hat diesmal ein besonders delikates Buch abgeliefert: Der Erzähler ist nicht nur Teil der Geschichte, sondern Teil einer der Figuren – es handelt sich um einen höchst kultivierten Fötus, der alle äußeren Eindrücke, die er nur kriegen kann (d. h. so ziemlich alles, was seine Mutter erlebt), in seine psychologischen und philosophischen Überlegungen verarbeitet. Achtung, Anspruch!

Wer also ein süffisantes Schwadronieren über Trochäen, Jamben und andere Versmaße von Vornherein für Geschwafel hält (keine Sorge, das passiert nicht allzu häufig), der sollte zweimal über den Kauf des Buches nachdenken. McEwan gibt uns Einblick in eine Welt, in der Shakespeare nicht allzu weit von dumpfen Körpergeräuschen entfernt ist. Doch über Literatur hinaus wagt sich der Fötus auch an politische Themen: Immer wieder taucht die Flüchtlingskrise auf, und überhaupt ist dieser Roman neben allem, was sonst so geschieht, sehr politisch. Der Fötus erinnert sich an einen Podcast, wo eine Politikexpertin vor der Zusammenkunft von Selbstmitleid und Aggressivität warnt, eine emotionale Mischung, die Nationen vergifte – ich fühlte mich an Carolin Emckes Dankesrede beim Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erinnert, die darin eben diesen Gefühlscocktail den AfD-Wählern zuschrieb.

Nussschale. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, erschienen am 26.10.2016 bei Diogenes.

Solche Exkurse über mögliche Weltkriegsszenarien und Ungerechtigkeit, die durchaus in alle Richtungen austeilen, dürfen auch schon mal vier Seiten einnehmen, mehr aber auch nicht. Ein gutes Maß, wie ich finde, auch wenn die Weltdenkerpose bisweilen etwas erzwungen wirkt und man darüber schnell die Ironie der Erzählperspektive vergisst.

Denn letztlich kreisen alle geistigen Exkurse immer wieder um die eigentliche Geschichte des Romans, die auf dramatische Weise die Zukunft des Ungeborenen zu beeinflussen droht. Das Kind wurde, so wird dem Leser schnell klar, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt der Beziehung gezeugt. Als wir an seinen Gedanken teilhaben dürfen, leben die Eltern nämlich bereits getrennt, befinden sich in einer „Beziehungspause“: Der Vater, der gutmütige Trottel, überlässt seiner Frau sein einstmals prächtiges Haus und erhofft sich von dieser großzügigen Geste, dass die Beziehung auf magische Weise genest. Weit gefehlt, denn die Mutter vergnügt sich mit seinem hohlköpfigen Bruder Claude im Ehebett.

Und als wäre das nicht schlimm genug, beschließen Bruder und Frau, den gutmütigen Wohltäter zu ermorden! Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Insbesondere, da mir das Motiv der Mutter nicht ganz klar ist: Natürlich ist mit viel Leidenschaft oftmals viel Hass verbunden. Statistiken belegen, dass Mordopfer in den allermeisten Fällen mit ihren Mördern zumindest bekannt waren. Und dass die Liebe die heftigsten Gefühle potenziert – geschenkt. Aber den armen Dichter (geradezu ein klassischer Held) John Cairncross, der hin und wieder wie ein etwas zu treuer Hund auftaucht und alle mit seinen Gedichten nervt, kaltblütig ermorden? Das erschien mir doch etwas radikal. Ist die Frau ein Psychopath? Offenbar. Wie kann es dann aber angehen, dass sie an anderer Stelle eine Katze beweint, die sie in ihrer Kindheit versehentlich tötete? Liegt das an den Schwangerschaftshormonen? Man weiß es nicht. 

Sicher ist, dass die Mutter (Trudy) als recht eindimensionale Rolle, d. h. als verlogenes Miststück, angelegt ist. Sie wird auch nicht gerade dadurch sympathischer, dass sie das Haus vermüllen lässt und die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum zeitweise verliert (der Liebhaber hilft nicht, wie es sich für einen Macho-Hohlkopf gehört). Der Fötus aber hadert mit seiner ungewollten Komplizenschaft: 

Ich versuche, sie mir vorzustellen und sie zu lieben, wie es sich gehört, dann denke ich an das, was sie bedrückt: den Bösewicht, den sie zum Liebhaber nahm, den Heiligen, den sie verließ, die Tat, für die sie sich ausgesprochen hat, und das reizende Kind, das sie Fremden überlassen will. Sie trotzdem lieben? Wenn die Antwort nein ist, hast du sie nie geliebt. Aber ich habe sie geliebt, ich liebte sie. Und lieb sie noch. (S. 72).

Ob der finstere Plan aufgeht, verrate ich natürlich nicht. Auf jeden Fall hält der Roman einige Überraschungen bereit. Auch die Sicherheit des Kindes ist nicht immer gewiss, beispielsweise wenn die Mutter stürmisch die Treppe herunter poltert. An solchen Stellen erhält der Leser aus erster Hand Auskunft über die Gefahr, die ein Sturz mit sich bringen würde – nichts Geringeres als das jähe Ende des jungen Lebens. Die Erzählperspektive bietet dabei allerlei grotesk-komische Szenen, etwa wenn das Ungeborene unfreiwilliger Zaungast beim Sex ist. 

Sehr humorvoll sind auch die Dialoge geraten, die immer wieder mit Kommentaren des Fötus begleitet werden. Der ungeborene Erzähler scheut sich nicht, malerische Vergleiche anzustellen mit den ihn umgebenden Figuren, deren Banalitäten er mit dem Messer seziert. Es macht einfach Spaß, wenn er Claude als dumpf bis zur Genialität (S. 35) oder dessen Geistlosigkeit als poetisch (S. 84) bezeichnet, und man fragt sich zusammen mit dem Erzähler, was Mutter Trudy eigentlich an dem Kerl findet: „Hat sie Claude heraufbeschworen, um dem ewigen Rätsel des Erotischen Gestalt zu verleihen?“ (S. 37).

Und neben Humor, Philosophie und Politik ist der Roman einfach spannend. Endlich wieder ein Buch, das mich vom Anfang bis zum Schluss gefesselt hat. Denn es ist nicht oft, dass ein Roman mir mein Bedürfnis nach Feuilletonlektüre und Krimigeschichte (dabei wollte ich eigentlich gar keinen Krimi lesen!) für die Zeit des Lesens restlos beglichen hat – großes Lob dafür! Es hätte aber auch ein bisschen bescheidener und mehr down-to-earth sein dürfen.

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