Mittwoch, 15. September 2021

Ein frühes Meisterwerk des Stealth-Genres. Thief: The Dark Project (1998)

 


Es ist Nacht. Meisterdieb Garrett steht zu später Stunde in Farkus‘ Laden. Farkus ist einer der wenigen Händler, die nach der Sperrstunde noch eine offene Tür für zwielichtige Gestalten wie Garrett haben. Doch seit einer ganzen Weile stehen da zwei Kerle vor der Tür, die selbst ihm unbekannt sind. Mit einem Male wird Farkus von einem Pfeil getroffen – er ist sofort tot. Es bleiben Garrett wenige Sekunden, zu realisieren, dass es offenbar eine Verwechslung gegeben hat – der tödliche Pfeil hatte eigentlich ihm selbst gegolten. Jetzt heißt es: Schleunigst die Beute einsacken und hinterher. Typen wie diese kann Garrett nicht gebrauchen, denn sobald sie ihren Irrtum bemerken, werden sie erneut zuschlagen – so viel ist sicher. 


Gealtert wie feiner Wein

Thief: The Dark Project ist jetzt 23 Jahre alt, und dennoch spielenswert – ja, ich behaupte dreist, dass es stimmiger ist als beispielsweise das wunderschöne Shadow of the Tomb Raider (2018) oder die moderne Hitman-Reihe (2016-2021) – immerhin zwei renommierte Stealth-Kollegen.

Manch einer wird jetzt einwenden: Woran liegt das, und warum lautet die Antwort ‚Nostalgie‘? Dem erwidere ich: Falsch! Oder: Nur teilweise richtig. Denn offensichtliche Schwachstellen wie die etwas hölzerne grafische Aufmachung weiß Thief gekonnt auszubügeln mit einer dichten Atmosphäre, die noch heute dem Spieler tatsächlich das Gefühl gibt, ein listiger Dieb in einer lebendigen Welt zu sein.

 

Mit dem Blackjack kann man die Wache schnell ins Reich der Träume schicken.

Thief spielt in einer namenlosen Stadt, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die erste Mission versetzt den Spieler in ein prunkvoll ausgestattetes Schloss mit Teppichen, Galerien und Bibliotheken. Die Wachen sind entweder betrunken oder meckern über ihren knurrenden Magen und der Spieler erkennt: Offenbar bin ich hier in einem finsteren, aber nicht humorlosen Mittelalter gelandet.

Später kommen fantastische Kreaturen wie dicke, feuerspeiende Echsen (Burricks) und Zombies hinzu, aber gleichzeitig schleicht sich immer auch ein bisschen Steampunk hinein: Primitive Aufzüge und elektrische Alarmsysteme sind fest verbaut in den massiven Burgen und Kirchen, die das Stadtbild prägen. Genaugenommen betreibt Thief gar eine Subversion des Steampunk, indem es auf allzu müde Klischees wie Zylinder und Monokel verzichtet und seine ächzenden Dampfmaschinen und magischen Straßenlaternen gekonnt mit mittelalterlicher Ästhetik verzahnt. Knarzende Türen, rotierende Maschinen und das Pfeifen einer patrouillierenden Wache füllen die Welt mit Leben, und ein Hauch Film Noir liegt in der Luft.

Religiöse Ikonografie und massive Zahnräder stellen in dieser Welt keinen ästhetischen Widerspruch dar.
 
Die Cutscenes versprühen Film-Noir-Flair.

Ein bisschen Schaudern ist erlaubt

Doch nicht nur die Lebenden machen sich lautstark bemerkbar, auch die Toten sind rastlos. In einer späteren Mission muss der vom Spieler gesteuerte Meisterdieb in eine verfluchte Kathedrale einbrechen. Mit primitiven Blendgranaten („Blitzbomben“) und Weihwasser ausgestattet, stellt er sich untoten Geistlichen, die ihm entweder als kettenrasselnde, aber blitzschnelle, in leuchtendes Rot gekleidete Schädelfratzen begegnen oder als untote Priester, die, unablässig in einer unergründlichen Sprache fluchend, Garrett mit magischen Totenschädeln beschießen. 

Die verfluchte Kathedrale.

Ein geübter Dieb jedoch kann all diesem Ärger entgehen, indem er sich vorsichtig und methodisch durch das entweihte Gotteshaus bewegt und jeden Zentimeter Schatten mit geübtem Auge zu vermessen weiß. Ein Lichtjuwel am unteren Rand des Bildschirms gibt Feedback, wie sichtbar die Spielfigur für ihre Feinde ist. Allerdings ist Garrett auch ein Freund harter Absatzschuhe. So veranstaltet der Meisterdieb ziemlichen Lärm auf marmornen Fliesen, wenn er zu hastig ist – Vorsicht ist geboten.

Die licht- und geräuschempfindliche künstliche Intelligenz ist dabei weiter, als man es für ein Spiel aus dem Jahre 1998 vermuten würde, wenngleich auch sie nicht ganz frei von Bugs ist. Mit seinem neuartigen Stealth-Gameplay läutete Thief (neben wenigen anderen Spielen) einen epochalen Umbruch für das First-Person-Spiel ein, das in der breiten Öffentlichkeit allerdings noch jahrelang in erster Linie mit sog. Killerspielen à la Doom oder Castle Wolfenstein assoziiert werden sollte. Inzwischen aber lösen Egoshooter keine Gewaltdebatten mehr aus, sondern bedienen sich eigener Stealth-Mechaniken – ein Vermächtnis auch der Thief-Reihe.

 

Ein unvorsichtiger Dieb endet schnell als Zombie-Piñata.

In der Kathedrale angekommen, lasse ich Garrett behutsam die Emporen erklimmen – denn der primitive Aufzug ist defekt. Seilpfeile oder gezielte Sprünge schaffen Abhilfe. Die Atmosphäre ist intensiv wie in einem Resident Evil, aber die historische Dimension ist gewaltiger, hier spukt der Geist der Knechtschaft, Folter und Hexenverfolgung. Diese Welt wird nicht von strahlenden Paladinen beherrscht, sondern vom ewigen Widerstreit zwischen dem religiösen Orden der handwerklich begabten Hammeriten und den mysteriösen, im Wald beheimateten Heiden. 

 

Der ewige Widerstreit zwischen dem Waldfürsten und dem Erbauer um die Gunst der Menschheit ist der Stoff von Legenden.
 

Garrett findet sich unverhofft zwischen den Fronten wieder, wie sich schon bald herausstellen soll. Doch zunächst berge ich einen magischen Edelstein, der sogleich zu mir spricht: Wozu die Eile? So einfach lässt mich das eigensinnige Juwel nicht gehen. Kraft seiner magischen Aura hat es die Vordertür versiegelt. 

Der ruhelose Bruder Murus fungiert als Questgeber.

Auf der Suche nach einem alternativen Ausgang stoße ich erstmals auf eine friedfertige Seele an diesem verfluchten Ort. Der Geist von Bruder Murus bittet mich, ihn von den Qualen des Untodes zu befreien. Es folgen ein paar fetch-quests, an deren buchstäblichem Höhepunkt ich das Observatorium betrete, wo die jetzt rastlosen Toten einst, zu ihren Lebzeiten, den Lauf der Sterne studierten. Hier befindet sich ein Becken, in dessen klarem Wasser letzte Spuren göttlichen Lichtes zu finden sind: Das reicht, um ein heiliges Symbol zu weihen, welches für eine rituelle Beerdigung benötigt wird. Als seine Seele endlich frei ist, lässt mir Bruder Murus einen Schlüssel zum Dachboden da, wo ich allerlei nützliche Ausrüstung finde. Schließlich gelingt es mir – sehr indiskret für einen Meisterdieb – das massive Tor der Klostermauer zu sprengen. Endlich frei!

Der Spieler ist der Souverän

Während der Mission habe ich die volle Kontrolle über Garrett. Keine Cutscenes unterbrechen das Geschehen – kurze, hervorragend synchronisierte Videos gibt es erst nach dem Level. Es blitzen auch keine Steam-Errungenschaften auf, die mir versichern würden, dass ich gerade alles richtig mache. Die Schauplätze, die Geschichte darin und darum sind interessant genug und erklären sich von allein: Wer sich unbeschadet durchschlagen will, muss sich vollkommen auf diese Welt einlassen. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bekommt der Spieler sein Werkzeug an die Hand gegeben: Hier sind Wasserpfeile – sie löschen Fackeln und schaffen so dunkle Ecken zum Zurückziehen. Moospfeile erzeugen einen Untergrund, der die Geräusche deiner Schritte dämpft. Hier ist dein Schwert, mit dem du kämpfen kannst, wenn es brenzlig wird. Hier ist eine Karte – sie mag nicht sonderlich detailliert sein, vielleicht ist sie gar veraltet – aber du bist klug genug, die Lücken selbst zu füllen.

Und darin liegt für mich die große Stärke von Thief. Das Spiel erklärt sich nur so weit, wie es muss und ist elegant in seinem Minimalismus. Gleichzeitig gibt es viel zu entdecken und meine schnell wachsenden Fähigkeiten erlauben es mir, verschiedene Routen und Spielweisen auszuprobieren, um an die kostbaren Schätze dieser ungewöhnlichen Welt zu gelangen.

 

Der exzentrische Constantine wird zu einem wichtigen Kontakt für Garrett.

Thief: The Dark Project ist derzeit in Form der Gold-Version für einen schmalen Taler zu haben – die gog-Version ist sogar bereits für moderne Systeme gepatched. Die Gold-Version bietet drei zusätzliche Level, die aber nur etwas für echte Liebhaber sind: Die Level sind schlicht ein bisschen zu groß geraten und erfordern sehr viel Umherrennen. Mein Tipp: Die Levels so lange spielen, bis sie anfangen, zu nerven und dabei so viel Gold wie möglich für die nächste Mission einsammeln. Dann: STRG+ALT+SHIFT+END. You’re welcome. Am besten noch ist Song in the Caverns gelungen, ein spannender Zweiteiler mit einigen Überraschungen und atmosphärisch bereits sehr dicht am zweiten Teil dank neuer visueller assets.

Die Magiertürme ist eine konzeptionell interessante Mission, aber zu lang.

Abschließend bleibt zu sagen: Thief besticht nach wie vor durch seine exzellente Soundkulisse, seine packende Mittelalter-Atmosphäre und sein schlankes, aber in die Tiefe reichendes Gameplay. Selten hat ein Spiel ein derart gelungenes Gesamtpaket aus Spielspaß, Spannung und originellen Ideen geliefert.


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